Sudetenkrise 1938: Chamberlain wollte die Fehler von 1914 vermeiden - WELT (2024)

Anzeige

Miteinander verhandeln ist besser als aufeinander schießen. Das jedenfalls war die feste Überzeugung von Neville Chamberlain, des Regierungschefs von Großbritannien. Selbst wenn man der anderen Seite dabei weit, vielleicht zu weit entgegen kommen muss.

Anzeige

Im September 1938 eskalierten die politischen Spannungen in Mitteleuropa. Genauer: Adolf Hitler, der „Führer und Reichskanzler“ des Dritten Reiches, ließ sie zielbewusst eskalieren. Umstritten waren die Grenzgebiete des früheren Böhmen zum „Großdeutschen Reich“, wie Deutschland seit der Vereinigung mit Österreich im März desselben Jahres hieß.

Die überwiegend deutschsprachige Region, die sich wie ein schmaler Kranz um die tschechisch geprägten böhmischen Kernlande mit der Hauptstadt Prag zogen, waren 1919 dem neu gebildeten Staat Tschechoslowakei zugeschlagen worden. Entgegen dem Grundprinzip des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, denn die Mehrheit der Bevölkerung in den meisten sudetendeutschen Landkreises wollte lieber zu Deutschland oder Österreich gehören als zur fremdsprachigen CSR.

„Beseitigung der Tschechei“

In den gesamten 1920er- und 1930er-Jahren köchelte der Konflikt weiter, doch erst Hitler instrumentalisierte die Nationalitätenstreitigkeiten; ihm ging es um die „Erweiterung des deutschen Lebensraums“. In einer streng geheimen Besprechung mit seinen obersten Militärs am 5. November 1937, die in der „Hoßbach-Niederschrift“ überliefert ist, hatte er die „die Beseitigung der Tschechei“ gefordert.

Schon für das kommende Jahr sah Hitler „unseren Angriff auf die Tschechei“ vor – im Wissen, dass Frankreich seinem Verbündeten wahrscheinlich beispringen würde und auch die Reaktion Englands wahrscheinlich ähnlich sein könnte. Riskieren wollte es der NSDAP-Chef trotzdem, im Vertrauen auf die aufgerüstete Wehrmacht.

Darin widersprachen ihm zwar sein Kriegsminister Werner von Blomberg und Heeres-Oberbefehlshaber Werner von Fritsch. Die beiden Generäle, die im Zweifrontenkrieg 1914 bis 1918 als Stabsoffiziere tätig gewesen waren, wiesen „wiederholt auf die Notwendigkeit hin, dass England und Frankreich nicht als unsere Gegner auftreten dürften“.

Anzeige

Hitler scherte diese Warnung nicht. Er setzte seinen Kurs der Konfliktverschärfung fort, indem er die separatistische Sudetendeutsche Partei unterstützte. Im April 1938, Blomberg und Fritzsch waren inzwischen abgesetzt worden, wies er seine neuen höchsten Militärs an, „die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine Militäraktion zu zerschlagen“.

Politik der „Beschwichtigung“

In Großbritannien beobachtete Premierminister Neville Chamberlain die Zuspitzung der Lage um das Sudetenland mit großer Sorge. Er hatte sich die Strategie des „Appeasem*nts“ zueigen gemacht, der „Beschwichtigungspolitik“ gegenüber Hitler. Erfunden hatte diese Haltung Chamberlains Vorgänger Ramsay MacDonald, der Frankreich schon 1932 gedrängt hatte, den deutschen Wünschen nach einer Revision des in Deutschland als ungerecht empfundenen Versailler Vertrages zu entsprechen.

Obwohl ab 1933 mit Hitler nun kein schwacher, stets vom Sturz bedrohter Reichskanzler mehr Deutschland regierte, sondern ein äußerst rücksichtsloser, aggressiver und trotzdem überaus populärer Diktator, hielten die nächsten britischen Regierungen am Konzept des „Appeasem*nt“ fest. Die zahlreichen Verstöße des Dritten Reiches gegen den Friedensvertrag von 1919 wurden hingenommen, die deutsche Aufrüstungspolitik sogar durch das britisch-deutsche Flottenabkommen offiziell sanktioniert.

Anzeige

Anzeige

Doch die Hoffnungen der „Appeasem*nt“-Anhänger, Hitlers Gier auf diese Weise befriedigen zu können, erfüllte sich nicht. Anfang September 1938 wurde in Großbritannien bekannt, dass die Wehrmacht sich offensichtlich auf einen Angriff auf die Tschechoslowakei vorbereitete.

Keine zweite Juli-Krise

Chamberlain hatte die Juli-Krise 1914 vor Augen. Seinerzeit hatte ein aus weltpolitischer Sicht ähnlich nebensächlicher Konflikt, damals zwischen Österreich-Ungarn und dem Königreich Serbien, den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Die Staatsmänner auf beiden Seiten, so sah es der Tory-Politiker, hatten die Chance verpasst, miteinander zu reden und eine gemeinsame Lösung zu finden. Diesen Fehler wollte er keinesfalls wiederholen.

Deshalb bat Chamberlain am 14. September 1938 in einer diplomatisch höchst ungewöhnlichen Form um ein sofortiges Treffen: „Im Hinblick auf die zunehmend kritische Lage schlage ich vor, sofort zu Ihnen herüberzukommen, um zu versuchen, eine friedliche Lösung zu finden. Ich schlage vor, auf dem Luftwege zu kommen, und bin morgen zur Abreise bereit. Teilen Sie mir bitte den frühesten Zeitpunkt mit, zu dem Sie mich empfangen können, und geben Sie mir den Ort der Zusammenkunft an. Ich wäre für eine sehr baldige Antwort dankbar.“

Umgehend veröffentlichte die Reichskanzlei die Bitte des Premier – ein bewusster Affront, zumal Hitler großmütig antwortete: „Der Führer und Reichskanzler hat auf die vorstehende Mitteilung geantwortet, dass er gern bereit sei, sich mit dem britischen Premierminister am 15. d. M. zu treffen.“ Nicht in Berlin, sondern auf der Bergresidenz des Diktators auf dem Obersalzberg.

Joseph Goebbels hielt sich zu dieser Zeit in der Reichshauptstadt auf und bekam Hitlers Reaktion auf Chamberlains Bitte nicht unmittelbar mit. Skeptisch schrieb er in sein Tagebuch: „Eine Wendung, die niemand vermuten konnte. Die schlauen Engländer bauen vor. Verschaffen sich ein moralisches Alibi. Und schieben uns so nach und nach die Kriegsschuld zu, wenn es zum Konflikt kommen sollte. Das ist nicht angenehm.“

Abflug um 8.35 Uhr

Am folgenden Tag, einem Donnerstag, musste der britische Premier früh aufstehen: Schon um 8.35 Uhr startete ein Flugzeug der staatlichen Fluggesellschaft British Airways, um den Regierungschef von London nach München zu bringen, wo er um 12.30 Uhr landete. Noch mehr als vier Stunden Bahn- und Autofahrt hatte der schon 69-jährige Politiker noch vor sich, bis er gegen 17 Uhr am „Berghof“ eintraf.

Der ersten Demütigung, nämlich der Zumutung, an seinen Urlaubsort zu reisen statt an einen Ort in der Mitte zwischen London und Berchtesgaden, ließ Hitler nun eine weitere folgen: Er ging Chamberlain nur soweit entgegen, dass er bei der Begrüßung auf der großen Freitreppe der Residenz zwei Stufe über dem Besucher stand.

Anzeige

Anzeige

Kurz darauf im Wohnzimmer die Besprechung, bei der mehrere Diplomaten und Dolmetscher, aber nur von deutscher Seite auch ein uniformierter General anwesend war: Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Auch das war ein klares Signal an Chamberlain: Die militärische Lösung stand ebenfalls bereit.

Chamberlain bat um ein Vier-Augen-Gespräch, und so zogen sich die beiden Regierungschefs mit einem Dolmetscher in das Arbeitszimmer des Berghofes zurück. Hitler nervte seinen Gast mit einer ausschweifenden Darlegung der deutsch-britischen Beziehungen, erinnerte sich der Dolmetscher, schaffte es aber nicht, ihn weiter zu ermüden.

Diplomatischer Sieg

Im Gegenteil war der Brite hellwach, als Hitler die „Heimkehr der Sudetendeutschen“ ins Reich verlangte. „Ich bin zu jeder Lösungsmöglichkeit des Problems bereit, falls die Gewaltanwendung ausgeschlossen bleibt“, reagierte Chamberlain und überrumpelte Hitler, der unüberlegt zurückgab: „Wer spricht von Gewalt?“ Angeblich wende der tschechische Präsident Edvard Benes „Gewalt gegen meine Landsleute im Sudetenland“ an. „Ich lasse mir das nicht länger bieten. Ich werde in kürzester Frist diese Frage so oder so aus eigener Initiative lösen!“

Nun hatte Chamberlain den Reichskanzler ertappt und setzte ihn unter Druck: „Wenn Sie entschlossen sind, Gewalt anzuwenden, ohne eine Diskussion abzuwarten, warum haben Sie mich dann überhaupt erst kommen lassen? Unter diesen Umständen ist es das Beste, wenn ich gleich wieder abreise. Es hat ja anscheinend doch alles keinen Zweck mehr.“

Hitler musste nun nachgeben und wenigstens grundsätzlich in offizielle Verhandlungen einwilligen. Damit war die Eskalationsstrategie gescheitert: Das Dritte Reich hatte den geplanten Angriff auf die Tschechoslowakei als Reaktion auf vermeintlich antideutsche Maßnahmen der Prager Regierung kaschieren wollen. Stattdessen sollten Details einer internationalen Konferenz zur Lösung der Sudetenkrise bei einem weiteren Treffen mit Chamberlain besprochen werden.

Verärgert notierte Goebbels: „Das Echo auf die Chamberlain-Reise ist weiterhin sehr positiv. Er hat sich damit in der ganzen Welt sehr populär gemacht.“ Nach normalen diplomatischen Kriterien hatte der konservative Appeasem*nt-Politiker aus London einen Sieg errungen.

Allerdings übersah Chamberlain, dass Hitler nicht bereit war, sich an diplomatische Gebräuche zu halten. Vielmehr verschärfte er die Krise wieder, indem er ein „Sudetendeutsches Freikorps“ aufstellen ließ.

Dieser Artikel wurde erstmals 2013 veröffentlicht.

Sudetenkrise 1938: Chamberlain wollte die Fehler von 1914 vermeiden - WELT (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Nathanael Baumbach

Last Updated:

Views: 6204

Rating: 4.4 / 5 (55 voted)

Reviews: 94% of readers found this page helpful

Author information

Name: Nathanael Baumbach

Birthday: 1998-12-02

Address: Apt. 829 751 Glover View, West Orlando, IN 22436

Phone: +901025288581

Job: Internal IT Coordinator

Hobby: Gunsmithing, Motor sports, Flying, Skiing, Hooping, Lego building, Ice skating

Introduction: My name is Nathanael Baumbach, I am a fantastic, nice, victorious, brave, healthy, cute, glorious person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.